Sektion VIII: Zeitstruktur und Zeitwahrnehmung in Literatur und Kultur der Gegenwart
Wie kaum ein anderes Phänomen seiner diachronen Existenz stellt sich die Zeit dem einzelnen Menschen, aber auch dem generationenübergreifenden kulturellen Gedächtnis als rätselhaft dar. Maßgeblich das aktive und das passive Leben in seinen biologischen und historischen Dimensionen bestimmend, ist die Zeit seit dem Beginn menschlichen Staunens und Nachdenkens Gegenstand zahlreicher Spekulationen in den verschiedenen Kulturen. In den mediterranen Gesellschaften wird, seit der jüdischen und christlichen Verbindung von Religion und Geschichte, die Paradoxie des subjektiven Zeiterlebens und seines intrikaten Zusammenhangs mit der kosmischen und der göttlichen Zeit vielfältig religiös und kulturell bearbeitet. Freilich wird der Ablauf der Zeit von jedem Menschen ’subjektiv’ erlebt, und diesseits des Kontrastes von zyklischer und linearer äußerer Zeit wird das eigene Leben immer wie in einem unaufhaltsam strömenden Fluss befindlich oder an ein Rad gebunden empfunden, das sich unablässig dreht und alles Lebendige bis zum Tod hin mit sich nimmt. Mit dem Gefühl, die Zeit bestehe aus irreversiblen, insofern unabänderlichen Prozessen, verbindet sich daher auch die Erfahrung, dass sie qualitativ sehr unterschiedlich ist: Sie kann den glücklichen Augenblick bringen, sie kann aber auch auf dem menschlichen Dasein lasten. Im Zustand der Lähmung oder der endlosen Langeweile gewinnt man sogar den Eindruck, dass die Zeit stillsteht. Das Individuum teilt den Ablauf der Zeit an jedem Jetztpunkt seines Bewusstseins in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft ein. Die Vergangenheit wird teils mehr oder weniger schnell vergessen, teils als Erinnerung aufbewahrt, so dass vergangene Geschehnisse wieder imaginativ wiederholt werden und in der Gegenwart wirken können. Die Zukunft ist die verborgene Zeit, die trotz des höchstwahrscheinlich Eintretenden (die Ereignisse in der Natur) und trotz aller praktischen Zukunftssorge (die Arbeit der Geschichte) für das Individuum ein unbekanntes Schicksal darstellt, das es einerseits erhofft, andererseits fürchtet. Um die Unsicherheit gegenüber dem sicher Kommenden, aber weithin Unbekannten und Zu-fälligen zu vermindern, versucht der Mensch, die Zukunft in gewissen Belangen und auf unterschiedliche Weise durch Prognosen zu erhellen und durch kulturelle Projekte und Produkte mitzubestimmen. Zwischen vergangener und künftiger Zeit liegt die Gegenwart, die Jetzt-Zeit, der Augenblick, in dem das Leben erlebt wird. So flüchtig die Gegenwart ist (nicht nur in der Beobachtung des Physikers, sondern auch in der des Psychologen und des Phänomenologen), so bedeutend erscheint sie der subjektiven Wahrnehmung als Zeit aktuellen Wirkens und Erleidens. Für die Zeitwahrnehmung der gegenwärtigen Kultur sind zwei Faktoren besonders wichtig, die nebeneinander existieren und offensichtlich im gleichen Maße an Intensität gewinnen wie sie sich gegenseitig auszuschließen scheinen. Die rasante Entwicklung der Technologie hat einerseits dazu geführt, dass leistungsgebundene Zeitabschnitte immer kürzer werden, so dass die jeweilige Leistungsfähigkeit gesteigert wird. Im Verhältnis zur Gesamtleistung verlängert die Technologie die Zeit, indem sie den Umfang der innerhalb einer bestimmten Zeitdauer zu erbringenden Leistung erweitert. Dies führt zur Steigerung des Zeitdrucks, unter dem wir leben, baut in seinen Produkten aber auch ein Widerlager zur irreversiblen Vergänglichkeit alles Zeitlichen auf. Andererseits gewinnt die Unterhaltung immer mehr an Bedeutung in der Lebensgestaltung, was unvermeidlich die Intensivierung der Unterhaltungsangebote bis zur völligen Unübersichtlichkeit verursacht. Dabei hat die Unterhaltung nicht zuletzt die Funktion zu “zerstreuen” und im Extrem die Zeit “totzuschlagen”. So kann Unterhaltung einerseits das Eintauchen in die Vergänglichkeit alles Zeitlichen sein, in einem gewissen Sinne aber auch das Widerlager zu dem irreversiblen Zeitablauf, der das menschliche Leben mit dem Tod beendet.
Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen gehen mit der Zeit unterschiedlich um. Während beispielsweise in Deutschland versucht wird, den Zeitpunkt genau zu fixieren und die Folge der Zeitpunkte linear aneinander anzuschließen, könnte sich der Augenblick im Orient (und nichtquantitativen Zeitkontexten auch in Deutschland) auf Stunden ausdehnen. Auch die monotheistischen Religionen, die Gott und eine irdische Geschichte korrelieren, fassen die Zeit unterschiedlich auf. So betrachtet das Judentum die gegenwärtige Zeit als Zeit der Bedrängnis, der eine kommende, durch die Anwesenheit des Messias befreite Zeit gegenübergestellt wird. Im Christentum bleibt die Auffassung von zwei Zeiten, einer bisherigen und einer kommenden, zwar weiterhin erhalten, wird jedoch um ein neues, u.U. revolutionäres Moment erweitert: Die Ewigkeit und ihre Vollkommenheit ist schon in der vergehenden, “alten” Zeit im Kommen und auf diese nicht verendlichte Weise gegenwärtig wirksam. Im Islam verliert die jetzige Weltzeit weitgehend an Bedeutung, weil sie im Schatten der prophetischen Ermahnungen und Drohungen im Blick auf das Leben nach dem Tode und dem Jüngsten Gericht steht. Literarische Zeugnisse verschiedener Kulturen und Religionen können daher im Vergleich zur Erstellung einer Art Kulturgeographie der Zeit dienen, zumal dann, wenn solche literarischen Werke die Zeitmatrix ihrer Stoffe und den Zeitindex der schriftstellerischen Arbeit, die sie hervorbringt, in bewusste, oft komplexe Beziehung setzen.
Themenkomplexe
- Zeitmesser der Kulturen (Bewegung des Fixsternhimmels, Jahreszeiten; Sonnen-, Wasser-, mechanische Uhren)
- Erlebte und (naturwissenschaftlich, technisch etc.) präparierte Zeit
- Kulturelle Rhythmisierung der Zeit (Arbeit und Muße, “Freizeit”)
- Korrelationen von Erinnerung und Erwartung
- Lebensphasen (Passageriten, Geburtstage, Festtage)
- Phänomenologien der Gegenwart
- Leben im Horizont der Zukunft: individueller Tod, apokalyptische Szenarien, chiliastische Projekte
- Chronos und Kairos: quantitative und qualitative Zeiten
- Imaginäre Zeit-Räume und ‘reale’ Zeit
- Gesunde Zeit – kranke Zeit
- Weltzeit in der religiösen Literatur
- Zeit der Ökonomie – Ökonomie der Zeit
Ansprechpartner
- Prof. Dr. Walter Sparn
- Dr. Georges Tamer
Copyright 2007 – 2016